Kapitel 4.1 – Leseprobe (Lesezeit: 10 Minuten)
Von Lachsen, Pavianen und sonderbaren Zivilisationskrankheiten
Stellen Sie sich vor, es gäbe tatsächlich so etwas wie Reinkarnation und kurz vor Ihrer Wiedergeburt stellte man Ihnen folgende Frage: »Das vergangene Leben hast du als Säugetier zu Lande verbracht. Das nächste Leben wirst du im Wasser verbringen. Du hast die Wahl – was möchtest du werden: ein kanadischer Lachs, der König der Fische, oder eine Seegurke?«
Vergessen Sie all Ihren Stolz und entscheiden Sie sich für die Seegurke! Nein? Ihre Entscheidung – Sie erblicken wiedergeboren als Lachs das Licht der Welt. Kurz nach Ihrer Geburt in einem kanadischen Quellbächlein machen Sie sich auf in Richtung Pazifik. Davor stärken Sie sich noch bei einem Snack aus den Überresten Ihrer verstorbenen Eltern. Später, im Pazifik angelangt, müssen Sie Ihren Stoffwechsel komplett umkrempeln: Bis jetzt – im Süßwasser – haben Sie Salz über die Nahrung aufgenommen; jetzt – im Salzwasser – müssen Sie Salz ausscheiden. Eine enorme physiologische Anpassungsleistung über mehrere Wochen hinweg liegt vor Ihnen. Auf der faulen Fischhaut liegen – sicherlich nicht in diesem Lachsleben. »Kein leichter Start«, denken Sie sich jetzt vielleicht. Wie gut, dass Sie von der Ziellinie noch nicht einmal eine vage Ahnung haben. Die liegt nämlich wieder genau da, wo Sie Ihre Reise begonnen haben.
Nach einigen Jahren »Urlaub im Meer« ermöglicht es Ihnen ein Geniestreich der Natur – Ihr genialer Wanderinstinkt –, den Weg zurück in die Heimat zum kanadischen Quellbächlein zu finden. Stromaufwärts machen Sie sich über viele Hundert Kilometer auf eine gefährliche Reise: Strudel durchqueren, Stromschnellen bewältigen, Wasserfälle überspringen und dabei nicht im Maul von Grizzlybären landen. Das alles, ohne viel zu essen und ohne längere Pausen. Ausgehungert und erschöpft in der Heimat angelangt, suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen, vermehren sich, sterben und dienen bald als Fischfutter für Ihre Nachkommen. Vielleicht doch lieber Seegurke?
Ein Fischbiologe, der Sie kurz vor dem Vermehrungsakt aus dem Wasser zieht, würde folgende Feststellung machen: viele Wunden, Infektionen, das Immunsystem am Boden und Unmengen des Stresshormons Cortisol im Körper. Während Ihrer langen Wanderung hat das Stresshormon Sie zu unglaublichen Leistungen befähigt. Am Ziel angekommen, hat es Sie jedoch getötet. Das sind doch gute Aussichten, wenn man davon ausgeht, dass auch der chronisch gestresste Mensch des Informationszeitalters zu viel Cortisol im Blut hat.
Lassen Sie uns einen Zeitsprung machen: Wir gehen zurück ins vergangene Jahrhundert, genauer gesagt ins Jahr 1978. Das Informationszeitalter steht zwar schon in den Startlöchern, in der Wildnis von Kenia ist davon aber noch wenig zu merken. Ein junger Forscher sitzt dort inmitten von Primaten. Robert Sapolsky – so heißt der junge Mann – möchte in einer einjährigen Feldarbeitsstudie das Verhalten von Pavianen studieren.
Paviane sind hochgradig soziale Tiere und leben in Gruppen mit einer streng hierarchischen Rangordnung. Bei Weibchen entscheidet die Geburt darüber, welcher »Kaste« sie angehören. Männchen müssen sich ihren Rang in aggressiven Dominanzkämpfen erobern. Hoher Rang bedeutet viel Sex und gutes Essen. So manchen erinnert das an #MeToo, die Unterhaltungsbranche und Politik.
Die Paviane gewöhnen sich schnell an Sapolsky und es ist nach kurzer Zeit fast so, als würde er zu ihnen gehören. So richtig sympathisch ist dem die Affenbande aber nicht, denn der Umgang untereinander ist grob, hinterhältig und manchmal sogar regelrecht gehässig. Sapolsky bemerkt sehr bald, dass Affen mit niedrigem sozialem Status abgemagert, ungesund und nicht sehr glücklich aussehen. Sie werden geschlagen, bekommen vor allem Essensreste ab und haben kaum Sex. Mit anderen Worten: Die Paviane mit niedrigem Status stehen unter Dauerstress und Sapolsky folgert daraus, dass dieser chronische Stress krank macht.[1]
»Stress macht krank? Das weiß doch jedes Kind!«, werden Sie vielleicht denken. Ja, heute schon, nicht aber 1978. Damals war das Thema Stress nicht gerade angesagt auf medizinischen Kongressen. »Keine Frage, chronischer Stress kann unangenehm sein, aber langfristige Auswirkungen?«, war der allgemeine Tenor. Heute wissen wir natürlich durch unzählige Studien, dass dem doch so ist. Chronischer Stress macht krank. Nicht nur Affen, sondern auch uns Menschen. Heute geht man sogar davon aus, dass unser chronischer Stresslevel der wichtigste bestimmende Faktor unserer Lebenserwartung ist, noch wichtiger als unsere Gene.[2]
Vor 150 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei weniger als 40 Jahren.[3]Die Säuglings- und Kindersterblichkeit war sehr hoch und Erwachsene starben an Tuberkulose, Cholera oder Typhus. Einen langweiligen Altersdiabetes erlebten nur die wenigsten. Mit der Entdeckung des Antibiotikums Anfang des 20. Jahrhunderts begann eine neue Ära in der Geschichte der Medizin und die Lebenserwartung in der westlichen Welt verdoppelte sich im Lauf der nächsten 100 Jahre. Wir sterben nicht mehr an Infektionen, sondern an Zivilisationskrankheiten. Chronischer Stress verursacht diese Krankheiten nicht direkt, sondern verstärkt die Risikofaktoren unseres modernen Lifestyles und verschlimmert deren Auswirkungen. Das war natürlich immer schon so, nur ist es früher nicht aufgefallen, weil wir bereits tot waren, bevor uns Altersdiabetes zu Leibe rücken konnte.
Stressige Verwirrungen und evolutionäre Entwirrungen
Albert Einstein kommt in den Himmel und bittet Gott, ihm doch endlich die Weltformel zu zeigen, nach der er sein ganzes Leben lang gesucht hat. Gott überreicht Einstein ein versiegeltes Kuvert. Einstein öffnet es, zieht vorsichtig einen Bogen Pergamentpapier heraus und beginnt andachtsvoll zu lesen. Plötzlich ruft er entsetzt: »Die Formel ist ja voller Fehler!« »Schlaues Kerlchen«, antwortet Gott mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
Lachen ist gesund und fördert den Stressabbau. Sagt man. Wenn man allerdings darüber nachdenkt, was mit dem Wort Stress eigentlich genau gemeint ist, dann kann einem das Lachen schon mal im Hals stecken bleiben. »Ich bin im Stress«, sagt der eine. »Es ist alles so stressig«, sagt der andere. Was ist Stress also wirklich? Ursache oder Wirkung? Belastung oder die Reaktion darauf?
Begonnen hat alles mit einem Missverständnis: Der Biochemiker Hans Selye, der von Österreich nach Kanada emigrierte und heute als Vater der modernen Stressforschung gilt, stellte bei Tierexperimenten mit Ratten in den 1930er-Jahren etwas Überraschendes fest: Trotz unterschiedlicher Belastungen – starker Lärm, extreme Hitze oder Nahrungsentzug – reagierten die Tiere immer mit den gleichen körperlichen Veränderungen. Selye entdeckte die Nichtspezifität der Stressreaktion.[4] Der gesamte Organismus reagiert auf unterschiedliche Belastungen immer mit der gleichen Antwort: einer Anpassungsreaktion.
Selye bezeichnete diese körperliche Reaktion mit »Stress«. Ein Irrtum, wie er später in seiner Autobiografie eingestand.[5] In der Physik bezeichnet das englische Wort »stress« die Belastung, die auf einen Körper wirkt. Da Selyes Englischkenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch nicht besonders gut waren, verwechselte er »stress« mit »strain«, was so viel wie »Verformung aufgrund dieser Belastung« bedeutet. Der Grundstein für all die Stressverwirrungen war gelegt.
Die Entwicklung unseres Nervensystems
Versuchen wir etwas Entwirrung in die Verwirrung zu bringen und gehen der Sache auf den Grund. Drehen wir das Rad der Zeit um einige Hundert Millionen Jahre zurück und betrachten einen der noch sehr einfachen Organismen. Eine Intelligenzbestie war das nicht, so viel steht sofort fest. Lediglich zwei Handlungsmöglichkeiten standen diesem Organismus zur Verfügung: aktiv sein oder sich einen faulen Lenz machen. Dieses wesentliche Prinzip ist auch heute noch Teil unseres vegetativen Nervensystems: Der Sympathikus fährt unseren Körper hoch, steigert unsere Energie und wirkt leistungsfördernd bei Belastungen. Das ist – wie Sie später noch erfahren werden – ein zentrales Element unserer Stressreaktion. Sein Gegenspieler – der Parasympathikus – regelt die Aktivität nach unten und dient der Regeneration. Ihn haben Sie bereits in Kapitel 2.2 kennengelernt, als es um unseren Schlaf ging. Der Dirigent, der Ruhe in den Kindergartenpausenhof des Gehirns bringen soll, Sie erinnern sich? Fast all unsere Organe werden von diesem gegensätzlichen Duo – Sympathikus und Parasympathikus – automatisch und ohne, dass wir darauf Einfluss nehmen können, gesteuert. Bereits hier lässt sich erahnen, dass Stress und Schlaf in enger Verbindung stehen.
Bei den Würmern – auf der Evolutionsleiter etwas höher und später angesiedelt als die einfachen Organismen – finden wir bereits die ersten Nervenansammlungen, die wir der Einfachheit halber als »Gehirne« bezeichnen wollen, obwohl es streng genommen noch keine sind. Diese sind neuronal fix verdrahtet und mit Instinkten vorprogrammiert. Das funktionierte ganz gut und wurde im Lauf der Evolution immer weiter optimiert. Irgendwann merkte Mutter Natur aber, dass sie auf eine Sackgasse zugesteuert war, und sie überlegte sich eine Alternativstrategie: »Wenn alles fix verdrahtet ist, dann muss ich mir für jede mögliche Herausforderung eine neuronale Schaltung überlegen, die diese meistern könnte«, grübelte sie. »In Wurm- oder auch Insektenkörpern stoße ich mit dieser Strategie schon aus Platzgründen irgendwann an die Grenzen des Möglichen. Den Körper größer machen? Schwachsinn. Alles verändert sich und bei ständig wechselnden Bedingungen sind dieser fixen Verdrahtungsstrategie einfach immer irgendwann Grenzen gesetzt. Himmel, Arsch und Zwirn: Das kann doch nicht so schwierig sein!«
Evolutionssprung: Ein lernfähiges Gehirn
»Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.«[6] Albert Einstein werden diese Worte in den Mund gelegt, Mutter Natur weiß es aber schon viel länger. Die Alternativstrategie, die sie aus dem Hut zauberte, machte einen regelrechten Evolutionssprung möglich: Sie baute ein flexibles Nervensystem, das auf sich verändernde Bedingungen reagieren kann. Ein lernfähiges Gehirn! Die fix verdrahteten Würmer und Insekten platzten vor Neid wie Mikrowellen-Popcorn.
Dieser Evolutionssprung ist in etwa vergleichbar mit konventionell programmierter Computersoftware auf der einen Seite und den neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz auf der anderen. Ein Beispiel: »Alpha Zero« ist der Name eines Computerprogramms, das im Dezember 2017 gegen »Stockfish 8« – das beste PC-Schachprogramm dieser Zeit – zu einem Schachduell antrat. »Stockfish« konnte 70 Millionen Stellungen in der Sekunde berechnen, hatte Zugang zu einer schier unendlichen Datenbank an jemals gespielten Schachpartien und gewann im Dezember 2016 die Top-Chess-Engine-Championship (TCEC). Aber »Stockfish« war konventionell programmiert, quasi fix verdrahtet. Bei »Alpha Zero« handelte es sich jedoch um ein Machine-Learning-Projekt der Google-Tochterfirma DeepMind. Dieses autodidaktische Computerprogramm, das lediglich mit den Schachregeln gefüttert wurde, brachte sich das Spiel von Grund auf selbst bei, indem es ausschließlich gegen sich selbst spielte. »Ich habe mich immer gefragt, wie es sei, wenn eine überlegende Spezies auf der Erde landet und uns ihre Art, Schach zu spielen, zeigt. Nun weiß ich es«[7], so der dänische Schachgroßmeister Peter Heine Nielsen in einem Interview der BBC nach dem Duell. Von 100 Partien besiegte »Alpha Zero« seinen »fix verdrahteten« Kontrahenten 28 Mal. 72 Partien endeten unentschieden. »Alpha Zero« benötigte im Vorfeld nur neun Stunden, um Schach zu erlernen.
Seit dem Evolutionssprung – weg von der fixen Verdrahtung – spazieren wir also mit einem flexiblen »Alpha Zero«-Gehirn auf unserer Halswirbelsäule herum. Und dieses trägt ein funktionelles und effizientes Stressprogramm in sich, das bei Gefahr laut »Achtung« schreit. Stört ein Stressor – also eine Belastung jeglicher Art – das homöostatische Gleichgewicht, dann pumpt die Nebenniere Stresshormone in den Blutkreislauf, die den Organismus mobilisieren und auf Trab halten. Das Ziel unseres Gehirns ist es, die Homöostase wiederherzustellen. Darauf werden wir gleich noch näher eingehen.
Durch die Lupe der Evolution betrachtet, bescherte dieses flexible Stressprogramm allen Lebewesen, die damit ausgestattet waren, einen enormen Überlebensvorteil. Es handelt sich um eine großartige Notfallstrategie, die wir heute neben dem Menschen und anderen Säugetieren auch bei den Fischen, Reptilien und Vögeln wiederfinden. Einen Haken hat die ganze Sache aber doch: Wenn wir die Stressreaktion zu lange oder zu oft anwerfen, dann werden wir krank. Das konnte bereits Hans Selye an seinen Ratten beobachten, und auch der Primatenforscher Robert Sapolsky vermutete dies bei seiner Feldarbeitsstudie mit den Pavianen in Kenia.
Das Stressprogramm unter der Lupe
Robert Sapolsky wurde im ausgehenden 20. Jahrhundert vom Primatenforscher zu einem der führenden Stressexperten weltweit. Er bezeichnet unsere Stressreaktion als »Bündel von neuronalen und endokrinen Veränderungen«[8]. Damit ist eigentlich schon sehr gut beschrieben, wovon wir hier sprechen: Das Stressprogramm in unserem Gehirn steuert die Stressreaktion über zwei unterschiedliche Hauptachsen. Die erste Achse – eine neuronale und sehr schnelle – versetzt unseren Körper in Sekundenbruchteilen in einen mobilisierten »Fight-or-Flight«-Zustand. Die optimalen Voraussetzungen, um zu fliehen oder zu kämpfen. Die zweite Achse – eine endokrine (hormonelle) und verzögerte Stressreaktion über den Blutkreislauf – stellt den Körper so ein, dass er einer länger andauernden Gefahrensituation gewachsen ist.
Stellen Sie sich vor, Sie spazieren entspannt durch den Wald und plötzlich steht in etwa 20 Meter Entfernung ein Säbelzahntiger vor Ihnen. Ja, Sie haben recht – ausgestorben. Versuchen wir es so: Stellen Sie sich vor, Sie spazieren entspannt durch den Wald und plötzlich steht in etwa 20 Meter Entfernung eine Wildschweinbache mit ihren Frischlingen vor Ihnen. In der Regel droht hier keine Gefahr und am besten umgeht man die junge Familie in einiger Entfernung. Fühlt sich die Bache jedoch bedroht, etwa weil man ihr den Fluchtweg abschneidet oder ihr zu nahekommt, gerät sie in Stress und warnt durch lautes Schnauben. Wahrscheinlich ist das genau der Moment, in dem auch bei den meisten Menschen das Stressprogramm angeworfen wird und signalisiert, dass man sich lieber zurückziehen sollte. Mit einer 150 Kilogramm schweren und besorgten Schweinemutter ist nicht zu spaßen. Falls man eher der entspannten und leichtsinnigen Sorte Homo sapiensangehört, dann wird das Stressprogramm möglicherweise erst dann aktiviert, wenn die Wildschweinbache nach all den vergeblichen und schnaubenden Warnungen ihren Angriff startet. Sie ist definitiv dazu bereit, die Frischlinge mit ihrem Leben zu verteidigen. Falls Sie jemals in eine solche Situation kommen sollten, dann versuchen Sie, nur dann davonzulaufen, wenn Sie auch sonst die 100-Meter-Distanz unter sieben Sekunden bewerkstelligen. Mit anderen Worten und für all jene mit übersteigertem Selbstvertrauen: Nicht davonlaufen! Arme heben, um größer zu wirken, und sich rückwärtsgehend langsam in Sicherheit bringen.
Halten wir kurz inne, um in Ihren Körper zu zoomen, und starten am besten dort, wo alles seinen Anfang nimmt: im Sekretariat des Großhirns, dem Thalamus. Er ist als erste Schaltstelle für die Verarbeitung von sensorischen Informationen zuständig: Sehen, Hören, Schmecken und Tasten. Unser Geruchssinn ist eine Ausnahme und scheint der Evolution – zumindest auf einer früheren Entwicklungsstufe – besonders wichtig gewesen zu sein. Er nimmt den direkten Weg zur Großhirnrinde.
Wie es sich für ein gutes Sekretariat gehört, nimmt der Thalamus eine erste rudimentäre Bewertung der Sinnesreize vor: Er filtert alles heraus, was ihm unwichtig erscheint, und gibt nur die wichtigen Akten an das Großhirn beziehungsweiseim Speziellen an dessen Rinde – dem evolutionsgeschichtlich jüngsten Teil unseres Gehirns – weiter. Die Großhirnrinde soll sich ein klares Bild über die momentane Situation verschaffen. Sie ist im weitesten Sinne für Denken und Problemlösungen zuständig und aufgrund der Komplexität ihrer Aufgaben nicht die Allerschnellste. Das weiß natürlich auch der Thalamus und deshalb reicht er die Informationen parallel an eine mandelförmige Gehirnregion durch, die den schönen griechischen Namen Amygdala trägt. Wenn unser Organismus darauf warten würde, bis sich die Großhirnrinde ein klares Bild einer Gefahrensituation gemacht hat, dann wären wir wahrscheinlich schon viele Tode gestorben. Instinkte übernehmen deshalb das Kommando.
Genau diesen Umstand wies Charles Darwin in einem Selbstexperiment im Jahr 1872 nach, indem er sein Gesicht an die Scheibe eines Terrariums drückte, das eine Puffotter beherbergte.[9] Er wusste, dass ihm keine Gefahr drohte. Streng genommen wusste seine Großhirnrinde das und nahm sich fest vor, nicht zurückzuzucken, wenn die Puffotter angriff. Selbst der Amygdala eines so großen Denkers wie Darwin ist die Großhirnrinde jedoch grotesk egal. Die Puffotter griff an. Darwin sprang drei Meter zurück. Er wies dadurch nicht nur nach, dass wir bestimmte Instinkte nicht kontrollieren können, sondern auch, dass der Mensch unglaublich lächerlich wirkt, wenn sein Körper sich anders verhält als beabsichtigt. Probieren Sie es bei Gelegenheit einmal aus. Mit ziemlicher Sicherheit werden Sie beide Tatsachen aus Darwins Experiment bestätigen können.
Die Amygdala ist Teil des sogenannten limbischen Systems, ein um den Hirnstamm gruppiertes Areal, das für die rasche Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Dieses findet sich in allen Säugetiergehirnen und wird manchmal als Gefühlshirn bezeichnet. Die Amygdala selbst gilt gemeinhin als das Angstzentrum im Gehirn. Ihre zentrale Aufgabe ist es, Gefahr wahrzunehmen und laut »Achtung« zu rufen, also die Stressreaktion zu aktivieren. Im Gegensatz zur Großhirnrinde, die die Akten sehr genau studiert, überfliegt die Amygdala in Windeseile alle Informationen und nimmt eine sehr grobe Einschätzung der Gefahrenlage vor. Sie ist so etwas wie der Geheimdienst unseres Gehirns.
Die schnelle Stressreaktion
Sie gehen also entspannt durch den Wald und sehen eine Wildschweinbache mit ihren Jungen. Alles im grünen Bereich. Plötzlich beginnt die Wildschweinbache bedrohlich zu schnauben. Diese Information kommt für Ihr Gehirn überraschend und stört die übliche Routine. Die Amygdala ruft nach einem kurzen Check der Gefahrenlage »Achtung!«, indem sie über neuronale Verbindungen den Hirnstamm anregt. Dieser sitzt an der Basis Ihres Gehirns, geht nahtlos ins Rückenmark über und ist in etwa so groß wie ein Daumen. Der Hirnstamm ist unscheinbar, evolutionsgeschichtlich sehr, sehr alt und als Teil des vegetativen Nervensystems überlebenswichtig. Er steuert vollautomatisch die lebensnotwendigen Systeme wie Kreislauf oder Atmung.
Panisch aktiviert der Hirnstamm in weiterer Folge den leistungssteigernden Sympathikus und über Nervenfortsätze wird im ganzen Körper die bedrohliche Nachricht verbreitet: »Mit dem Wildschwein ist nicht zu spaßen«. Die beiden Nebennieren sind besorgt und reagieren sofort: Sie schütten die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin in die Blutbahn aus. Diese schnelle neuronale Stressachse aktiviert sich innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Vielleicht gelingt es uns ja jetzt schon, der Gefahrensituation zu entkommen. Dann erlischt die initiale Stressaktivierung, die Stressreaktion hat ein Ende und unser Dirigent, der Parasympathikus, hat seinen Auftritt. Die Erholungsphase wird eingeleitet, der Körper beruhigt sich und die Stresshormone werden abgebaut. Alles gut!
Die verzögerte Stressreaktion
Die ausschließliche Aktivierung der schnellen Stressachse ist eher die Ausnahme als die Regel. Entkommen wir einer Gefahrensituation nicht innerhalb von wenigen Sekunden, dann wird die verzögerte Stressachse aktiviert, die hormonell über die Blutbahn gesteuert wird.
Der Hypothalamus spielt in dieser zweiten Stressreaktion eine zentrale Rolle. Den haben Sie ja bereits kennengelernt. Er ist ein richtiger Wunderwuzzi, das Hauptquartier unserer Hormonsteuerung und Steuerungszentrale vieler vegetativer Grundfunktionen. Alle neuronalen Autobahnen des limbischen Systems – unseres Gefühlshirns – treffen sich im Knotenpunkt Hypothalamus. Er ist quasi der Innenminister unseres Gehirns und die Amygdala ist sein Geheimdienst.
Die Amygdala aktiviert nicht nur die schnelle Stressreaktion über Hirnstamm und Nerven, sondern mit einigen Sekunden Verzögerung informiert sie auch den Innenminister. Zum Glück vertraut der seinem Geheimdienst blind, sonst käme unser Organismus schnell in eine gefährliche Lage. Der Hypothalamus benachrichtigt in Folge die Hypophyse, die über den Blutkreislauf Botenhormone an die Nebennieren sendet. Diese beginnen neben den Hormonen der ersten Stressachse (Adrenalin und Noradrenalin) nun auch das Steroidhormon Cortisol auszuschütten, das wichtigste Hormon unserer Stressreaktion. Erinnern Sie sich an die kanadischen Lachse? Genau, wir sprechen hier vom gleichen Hormon.
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[1]Virgin Jr, C. E., & Sapolsky, R. M. (1997). Styles of male social behavior and their endocrine correlates among low-ranking baboons. In: American Journal of Primatology 42 (1). S. 25–39.
[2]Kaplanis, J. et al. (2018). Quantitative analysis of population-scale family trees with millions of relatives. In: Science 360 (6385), S. 171–175.
[3]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/185394/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-nach-geschlecht/. Letzter Aufruf: 25.10.2018.
[4]Kabat-Zinn, J. (2006). Gesund durch Meditation: Das große Buch der Selbstheilung. Fischer Taschenbuch Verlag. S. 198.
[5]Selye, H. (1979). Stress of My Life: A Scientist’s Memoirs. Van Nostrand Reinhold Company. S. 82 ff.
[6]https://www.zitate-online.de/sprueche/wissenschaftler/265/probleme-kann-man-niemals-mit-derselben-denkweise.html.Letzter Aufruf: 19.04.2019.
[7]https://de.wikipedia.org/wiki/AlphaZero. Letzter Aufruf: 31.10.2018.
[8]Sapolsky, R. (2017). Gewalt und Mitgefühl: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Carl Hanser Verlag. S. 167.
[9]http://www.ibio.ovgu.de/ibio_media/pdf/lehrstuehle/zoologie_entwickl/hirnforschung/Stress_Gehirn.pdf.Letzter Aufruf: 19.04.2019.