Kapitel 1.2 – Leseprobe (Lesezeit: 7 Minuten)
Mutter Natur ist ein böses Weib
Der Mensch hat sich von Mutter Natur getrennt. Das haben Sie im letzten Kapitel gelesen und daran besteht wahrscheinlich kein Zweifel. Dass der Mensch auch guten Grund dazu hatte, das haben Autorin und Autor bislang verblümt versteckt und dezent verschwiegen. Wer möchte schon daran schuld sein, ein romantisches Bild zu zerstören?
»Mutter Natur ist ein böses Weib«, pflegt die beste Freundin der Autorin zu sagen. Sie ist genau wie die Autorin promovierte Biologin und Klugscheißerin und hat in diesem Punkt voll und ganz recht. Seit Anbeginn der Zeiten macht Mutter Natur dem Leben das Leben schwer. Bittere Kälte, gnadenlose Hitze, kosmische Strahlung, toxische Gase und Dämpfe – es gibt genug Widrigkeiten, die das Leben zwar offensichtlich nicht verhindern können, aber doch zumindest erschweren. Trotzdem hat sich Leben auf diesem Planeten entwickelt. Und das meiste dieses Lebens ist auch nicht unbedingt harmlos: Es ergänzt das Waffenarsenal des blanken Planeten um weitere Toxine, zelluläre Zerstörer wie Viren und Bakterien, um Dornen und Reißzähne. Dieser Planet und das gesamte Leben darauf sind recht angriffslustig, abgesehen von Bambi vielleicht. Bambi ist durchweg niedlich und harmlos.
Inmitten dieser feindlichen Umgebung hat sich der Mensch entwickelt. Dabei müssen wir bedenken, dass die Gene des Menschen in ihren Grundzügen so alt sind wie das Leben selbst. Er wurde nicht vor 300 000 Jahren aus dem Nichts neu erschaffen, sondern hat sich in 3,8 Milliarden Jahren aus den allerersten Zellen bis hierher entwickelt. Von der Ursuppe bis zum Silicon Valley hat ein kleiner Teil unserer Gene mindestens einen Atmosphärenwechsel mitgemacht, zahlreiche Eiszeiten und Klimaverschiebungen und eine ganze Reihe giftiger Mitbewohner erlebt. Ab der Entstehung des Menschen, wie wir ihn heute kennen, kommen noch einige Klimawechsel inklusive Eiszeiten, Vulkanausbrüchen, Sonneneruptionen, Pflanzengifte und körperliche Grenzerfahrungen hinzu.
Hurra, wir leben noch! Der Mensch und das gesamte Leben auf diesem Planeten wären heute nicht hier, wenn sie damit nicht zurechtkommen würden. In unseren Genen stecken Mechanismen, die bisher alle »Angriffe« des Universums und der Natur, inklusive uns selbst, vereitelt haben. Gerät ein Organismus in Not, startet er gewisse Hilfsprogramme, die ihn aus dem Dreck ziehen sollen. Das beginnt mit ganz schlichten Meidereaktionen von Einzellern, die sofort in die entgegengesetzte Richtung schwimmen, wenn sie zum Beispiel auf toxische Substanzen stoßen, und geht hinauf bis zur hochkomplexen Stressreaktion der Wirbeltiere, an der zig Stoffwechselvorgänge, Regelkreise und im Gehirn gespeicherte Daten beteiligt sind.
Das zelluläre Notfallprogramm
Neben der Stressreaktion, dem Notfallprogramm, das den Körper in Sicherheit bringen soll, verfügt auch jede einzelne Körperzelle über ihr ganz eigenes Notfallprogramm, das sie schützen soll. Unabhängig vom Großen und Ganzen und im Verbund agierenden System aus Organsystemen und Nervenverbindungen bildet jede einzelne Zelle eine biologische Einheit, die an ihrem Überleben »interessiert« ist.
Geraten unsere Zellen in Stress, laufen auf zellulärer Ebene verschiedene Schutzmechanismen an. Hitze, Kälte, Sauerstoffmangel – all dies sind Reize, die für diese kleinste biologische Einheit den Tod bedeuten können und damit Stress auf zellulärer Ebene auslösen. Unabhängig von der Art des Reizes ereignen sich im Grunde immer die gleichen Dinge:
- Soweit möglich, wird der schädigende Einfluss neutralisiert. Giftstoffe, Viren und Bakterien zum Beispiel werden abgebaut. Sie werden in unschädliche Einzelbausteine zerlegt und recycelt.
- Noch nicht geschädigte Moleküle und Zellen werden vor dem Angriff geschützt. Dazu werden Schutzproteine gebildet, die in der Lage sind, körpereigene Zellbestandteile zu stabilisieren. Leicht beschädigte Proteine können unter Umständen noch gerettet werden. Spezielle Reparaturproteine kümmern sich darum, den Schaden wieder rückgängig zu machen.
- Alles, was einen wirtschaftlichen Totalschaden erlitten hat und für eine Reparatur nicht mehr infrage kommt, wird gnadenlos abgebaut. Aus den Abbaustoffen werden dann wieder neue Proteine gebildet. Dabei unterscheidet die Recycling-Kolonne nicht zwischen aktuellen und alten Zellschäden. Was ihr unter den Wischmopp kommt, wird entfernt. Dadurch löst der ursprüngliche Angriff eine Art Grundreinigung aus. Einen Frühjahrsputz.
Was mich nicht umbringt, macht mich härter – Das hormetische Prinzip
Wie der Mensch selbst, so neigt auch sein Körper zu Überreaktionen. Schutz- und Reparaturproteine sowie der gesamte Aufräumapparat werden nicht passend produziert, sondern so, dass sie auf jeden Fall mit dem Schaden zurechtkommen. Was nach dem Abwenden der akuten Bedrohung übrig ist, wird nicht sofort wieder abgebaut, sondern verbleibt eine Zeit lang in den Zellen. Das Resultat ist, dass die Zellen für eine gewisse Zeit eine Art Premiumschutz haben: Sie sind nun auf einen vergleichbaren Angriff vorbereitet. Genau dies wird als Hormesis oder hormetische Reaktion bezeichnet: Eine geringe Dosis eines schädlichen Einflusses kann vom Körper abgewendet werden und sorgt dafür, dass er sich gegen diesen Angriff wappnet. Hormesis hilft dem Körper, sich anzupassen – an Hitze, Kälte, Toxine und Strahlung. Und sie sorgt dafür, dass der Dreck aus dem Haus kommt.
Aber warum ist das so? Immerhin kostet so eine Überproduktion »unnötig« Energie. Der Grund dürfte darin liegen, dass der Premiumschutz einen evolutionären Vorteil bietet. Viele »Angriffe« der Natur kündigen sich langsam an. Temperaturwechsel zum Beispiel. Okay, in den letzten Jahren hatten wir häufig seltsame Temperatursprünge von einem Tag auf den anderen. Gestern noch Winter und heute – zack, zack, zack – 28 Grad Celsius und Freibadsaison. Jedoch müssen Sie zugeben, dass eine Hitzewelle oder auch nur der Jahreszeitenwechsel sich im Normalfall durch langsam steigende Temperaturen ankündigt. Und Sie werden aus eigener Erfahrung wissen, dass Sie körperlich mit einem langsamen Anstieg besser zurechtkommen als mit einem Temperatursprung. Eben dies liegt an der Überreaktion Ihres Körpers. Nehmen wir dieses Beispiel und schauen es uns genauer an.
Hohe Außentemperaturen stellen eine Herausforderung für den Körper dar. Alle Stoffwechselvorgänge sind an die Körpertemperatur gebunden – darum ist der Körper auch so erpicht darauf, dieses Temperaturfenster zu halten. Gleichzeitig produziert unser Stoffwechsel Wärmeenergie, und das nicht zu knapp. Würde man Sie in eine Thermoskanne stecken, aus der keine Wärme entweichen kann, würde Ihr eigener Stoffwechsel Sie dünsten. Die überschüssige Wärme des Körpers muss abgegeben werden. Steigt die Außentemperatur, reichen die passiven Kühlmechanismen nicht mehr aus. Die Zellen geraten in Hitzestress. Was die Zellen dabei stresst, ist die Tatsache, dass eine zu hohe Temperatur die Struktur von Proteinen verändert.
Proteine bestehen aus mehr oder weniger langen Ketten von Aminosäuren, die wie Perlen auf einer Schnur hintereinander aufgereiht sind – ziemlich lang, ziemlich unpraktisch und ziemlich funktionslos. Damit die Proteine ihre vielfältigen Aufgaben erfüllen können, müssen sie in einer charakteristischen Form gefaltet werden. Wie diese Faltung aussieht, hängt von den Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Perlen ab. Stellen Sie sich zum Beispiel eine Kette mit unterschiedlich gefärbten Perlen vor. Nehmen wir nun an, dass sich rote und blaue Perlen wie Magnete anziehen. Wenn man jetzt die roten und blauen Perlen der Reihe nach zusammenklickt, ergibt sich eine immer gleiche, klar definierte Art, wie die Kette gefaltet wird. Ändern sich aus irgendeinem Grund die Wechselwirkungen und die blauen Perlen klicken auf einmal verstärkt mit grünen Perlen zusammen, ergibt sich eine ganz andere Faltung. Wird es in der Zelle zu warm, verändern sich die Wechselwirkungen innerhalb der Proteinkette und die Aminosäuren klicken völlig anders zusammen. Man spricht von einer »Konformationsänderung«.
Um genau dies zu verhindern, steuert die Zelle mit den oben erwähnten hormetischen Mechanismen dagegen. An der Hitze selbst kann die einzelne Zelle nichts ändern. Da kann sie nur darauf hoffen, dass es dem Rest des Körpers genauso geht und der Verstand vor der finalen Hitzeabschaltung noch dafür sorgt, dass der Mensch in den Schatten geht. Aber die einzelne Zelle kann Proteine bilden, die die anderen Proteine vor der Konformationsänderung schützen. Da diese Schutzproteine zum ersten Mal bei einer Reaktion auf Hitzereize wissenschaftlich beschrieben wurden, taufte man sie »Hitzeschockproteine«.[1] Inzwischen weiß man jedoch, dass die gleichen Schutzproteine auch als Antwort auf alle anderen Stressreize gebildet werden, die Einfluss auf die Konformation der Zellproteine nehmen. Ein Beispiel wäre der Biss auf eine Piri-Piri-Chilischote. In diesem Fall dockt das für die Schärfe verantwortliche Alkaloid Capsaicin an die Schmerzrezeptoren unserer Zellen an, was wiederum zu starkem Brennen führt und eben auch zur Bildung jener Hitzeschockproteine. Die Inder wissen schon, was sie tun: Hormetisch gesehen passt das scharfe Essen perfekt zur großen Hitze und hilft dabei, den Körper daran anzupassen.
Die Tochter des Autors hatte im Alter von drei Jahren – tollkühn, jung und naiv – wohl andere Motive, als sie in der Vorweihnachtszeit herzhaft in eine feuerrote Piri-Piri-Chilischote biss. Vielleicht hatte es ihr die intensive Farbe angetan oder sie konnte sich unter der Warnung »richtig scharf« nicht wirklich etwas vorstellen. Oder sie wollte einfach zeigen, dass ihre dreijährigen Geschmacksknospen aus einem eigenen Holz geschnitzt waren. Waren sie aber nicht. Sie schickten unmittelbar ein sehr deutliches Signal zum Gehirn: »Gefahr! Ausspucken! Weg damit!« Tränen schossen aus ihren Augen und messerscharfe Schreie aus ihrem Mund. Dem ersten Reflex, Wasser zu trinken, sollte man in einem solchen Fall widerstehen. Capsaicin ist nicht wasser- sondern fettlöslich und verteilt sich so – angespornt durch das nur vermeintlich kühlende Nass – weiter im Rachenraum. Milch oder – um bei der indischen Küche zu bleiben – Mango-Lassi helfen da schon besser.
Ein winziger Tipp am Rande, nur für den Fall, dass Sie einmal in eine solche Situation geraten sollten: Die Ernährungswissenschaftlerin Désirée Schneider ging in ihrer Doktorarbeit der Frage nach, was den Schärfereiz einer Chilischote wohl am besten neutralisiere.[2] Demnach scheint die Kombination von Toastbrot und Mascarpone im Kampf gegen Chilischärfe wie Batman & Robin zusammenzuspielen. Der cremige Doppelrahm-Frischkäse mit einem Fettgehalt von schier 80 Prozent löst das Capsaicin und das Toastbrot schabt es regelrecht von den züngelnden Schmerzrezeptoren. Vorsorglich hat der Autor seit dem vorweihnachtlichen Zwischenfall meist Mascarpone im Kühlschrank. Kindertiramisu – einfach Löffelbiskuits in Kakao anstelle von Kaffee und Alkohol tauchen – schmeckt sowieso der ganzen Familie.
Doch kommen wir wieder auf unsere Zelle zu sprechen, die gestresst ist und gerade versucht, ihr Leben zu retten. Sie kann also Hitzeschockproteine bilden, um Zellorganellen, DNA, Enzyme und andere Stoffwechselproteine zu schützen. Was sie noch tun kann: Sie kann dafür sorgen, dass bereits zerstörte Zellproteine abgebaut werden und der Müll aus der Zelle transportiert wird. Alles, was nicht mehr funktioniert, wird dabei gnadenlos niedergemäht. Diesen Prozess bezeichnet man als Autophagie.
Autophagie – Die Kunst, sich selbst zu verdauen
Ob fehlgefaltete Proteine oder ganze Zellorganellen, die ihre Funktion nicht mehr erfüllen – selbst auf zellulärer Ebene ist unser Körper ein Verwertungswunder. Die Autophagie, auch als Autophagozytose bezeichnet, sorgt dafür, dass nicht funktionierende Zellbestandteile abgebaut und recycelt werden. Ist die Zelle insgesamt zu stark geschädigt, kann die Autophagozytose sogar dafür sorgen, dass die gesamte Zelle abgebaut und recycelt wird. Damit nimmt sie eine Schlüsselrolle in der Zellgesundheit ein. Sie räumt nicht nur auf, sondern liefert durch den Abbau der ausgesonderten Proteine auch noch Bausteine für den Aufbau neuer Zellbestandteile. Ist nicht genug Nahrung vorhanden, kann sie außerdem Energie liefern, indem sie überflüssiges Mobiliar verfeuert.
Damit ist die Autophagie auch ein Mechanismus, der den Abbau alter und die Produktion neuer Zellkomponenten im Gleichgewicht hält. Sie läuft in geringem Maß die ganze Zeit ab, wird jedoch vor allem in zellulären Stresssituationen angeworfen. Also vergleichbar mit dem eigenen Haushalt: Ein Minimum an Ordnung und Sauberkeit hat man eigentlich immer in der Hütte – hat sich Besuch angekündigt, feudelt und räumt man jedoch ganz anders im Haus herum. Bleibt der Stress aus, sammeln sich Zellmüll und defekte Zellen an, die über kurz oder lang die Funktionsweise beeinträchtigen. Ein »gesundes Maß« an Stress für den Körper trägt daher über die Müllabfuhr zur Gesundheit bei und ist demnach mehr als positiv. Es wird daher im Folgenden immer wieder zur Sprache kommen, wie Sie Ihre Zellen »gesund stressen« können, denn ohne Zellstress keine Autophagie. Zu den Folgen gehören unter anderem Tumoren und neurodegenerative Erkrankungen.[3] Um es ein wenig komplizierter zu gestalten, sei jedoch erwähnt, dass Autophagie-Prozesse zurzeit intensiv untersucht werden und eine Reihe, auf den ersten Blick widersprüchliche Ergebnisse zutage gefördert werden. Autophagie kann zwar durchaus die Entstehung von Tumoren verhindern, da sie entartete Zellen vernichtet, ehe sie sich vermehren können, sind jedoch bereits Krebszellen entstanden, entscheidet der Einzelfall. Auch Tumoren sind zur Autophagie fähig, jedoch unterschiedlich stark. Manche scheinen zudem durch die recycelten Bausteine aus der Autophagozytose der gesunden Zellen regelrecht gefüttert zu werden. Dies ist wohl der rote Faden in diesem Buch: Es ist kompliziert. Auf jeden Fall komplizierter als ursprünglich gedacht.
Die
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Formel
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[1]Ritossa, F. (1962). A new puffing pattern induced by temperature shock and DNP in drosophila. In: Experientia 18 (12). S. 571–573.
[2]Schneider, D. J. (2014). Analyse des Capsaicinoidgehalts in ausgewählten Chili-Produkten mithilfe der HPLC-MS und Vergleich mit sensorischen Untersuchungen. VVB Laufersweiler Verlag. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2015/11277/pdf/SchneiderDesiree_2014_12_15.pdf. Letzter Aufruf: 22.08.2018.
[3]Lenzen-Schulte, M., & Zylka-Menhorn, V. (2016). Autophagie: »Selbstverstümmelung« als Überlebensstrategie. In: Deutsches Ärzteblatt 113 (40). S. A 1740–A 1742.